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Eule   'Philosophieren ist radikal' - Ein Interview mit dem 'Zürcher Unterländer'
(Interview: Dorothee Vögeli)

Sie betreiben eine philosophische Praxis. Welche Frage wird am häufigsten gestellt?
Die Frage nach dem gelingenden Leben. Viele Leute glauben, in ihrem äusseren Leben etwas verändern zu müssen. Während Gesprächen vor dem Hintergrund der Weisheitstraditionen, der Philosophie und der Literatur stellt sich aber oft heraus, dass es vorerst weniger um äussere Massnahmen als um das Üben des Gesprächs mit sich selbst geht - um den 'Mut, man selbst zu sein', wie es bei Paul Tillich heisst.

Geben Sie also mehrheitlich konkrete Lebenshilfen?
Ich mache eher den Versuch, die Philosophie als grosse Lehrmeisterin in unser Gespräch einzubringen. Sie ermuntert uns beispielsweise, jeder der inneren Stimmen Gehör zu verschaffen, sich von keiner einzelnen Stimme überwältigen zu lassen. Die Leute, die zu mir kommen, wollen sich mit Philosophie befassen. Sie wollen mit meiner Hilfe Texte lesen, Gedankengänge nachvollziehen, sich inspirieren lassen.

Lassen sich die grossen philosophischen Systeme einem Laien überhaupt vermitteln?
Vielleicht geht es weniger um philosophische Systeme als um erhellende Gedanken. Wir denken zusammen nach. Philosophie verstehe ich als Ermunterung zur Nachdenklichkeit und zum Weiterdenken. Bei vielen Menschen liegt einiges brach, was durch philosophische Gespräche aktiviert werden kann, und es ist schön, wenn solche Begabungen in Erscheinung treten und wirksam werden.

Warum tun wir uns schwer mit Antworten auf Lebensfragen?
Wir stellen oft die Fragen falsch und wollen zu schnell zu eindimensionale Antworten. Philosophische Fragestellungen brechen immer aus dem Schema des vermeintlich Selbstverständlichen aus. Weil wir Mühe haben, unseren Alltagshorizont zu erweitern, haben wir Mühe mit der Philosophie.

Ist die Erweiterung des Alltagshorizonts ein rationaler Vorgang?
Ja, sicher. Der Alltagsverstand sucht Mittel für bestimmte Zwecke. Rational im erweiterten Sinne ist diese 'instrumentelle Vernunft' jedoch noch nicht - rational ist die 'schöpferische Vernunft'. Diese ist 'kontextsensibel' - sie nimmt Zusammenhänge wahr, stellt Zusammenhänge her, kleine und grosse, innere und äussere. Sie bezieht Intuition und Imagination, Sinnlichkeit und Gefühl mit ein. Sie weiss um die Bedeutung des Imaginären und Symbolischen, um die Gefahren von Magie und Fetisch in unserem Leben.

Philosophieren bedeutet also, die Grenzen unseres Alltagsverstandes zu sprengen.
Vielleicht auch, Grenzen wahrzunehmen. Zum Beispiel heisst es bei Wittgenstein: 'Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.' Über die Struktur der Sprache oder des Denkens hinaus können wir nichts wissen. Ich finde das beruhigend: wir brauchen das Göttliche weder zu leugnen noch zu behaupten - über letzte Fragen wissen wir nichts.

Zentral ist heute das Thema der Ohnmacht des Individuums gegenüber der global herrschenden Marktlogik. Haben wir mit dem Instrumentarium von Marx, Kant oder Platon überhaupt noch Zugang zu den Problemen des heutigen Menschen?
Das hängt von uns ab. Wenn wir nur noch mehr Marktlogik wollen, dann sicher nicht; wenn wir Lust auf die Gestaltung unseres Lebens haben, dann finden wir bei den Philosophen einen grossen Reichtum an Anregungen.

Zum Beispiel?
Das Selbstgespräch und die Selbstmächtigkeit zu üben, uns nicht von Phantasien und Zwängen herumschleudern zu lassen, fremde Stimmen durch die Kultivierung der eigenen zu neutralisieren, zeigen uns Techniken aus der Antike; die 'Lüste richtig zu gebrauchen', zeigt uns Montaigne; das 'Begehren' zu kultivieren lehren uns einige Postmoderne wie Foucault oder Lacan; vor einem 'zerstörerischen, seriös getarnten Aktivismus' warnt Sloterdijk - das scheint mir alles höchst aktuell zu sein.

Sie verstehen Philosophie als Anleitung für ein schöneres persönliches Leben. Rechtfertigt dieser Ansatz nicht zugleich den Egoismus der Konsumgesellschaft?
Nur, wenn man zwischen Selbstsorge und Egoismus nicht unterscheidet. Diese Unterscheidung ist aber in der Philosophie zentral: Aristoteles wusste, dass wir nur dann 'jemandes Freund' sein können, wenn wir zuerst 'uns selbst Freund' sind. Ich glaube, dass ein grosser Teil unserer heutigen Probleme sich aus einem Mangel an Selbstrespekt ergibt.

In der auf Fun und Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Welt ist kaum mehr jemand bereit, Verantwortung zu übernehmen. Gehören Visionen von gesellschaftlichen Revolutionen in die philosophische Mottenkiste?
'Revolution' kommt von 'revolvere': sich drehen, respektive sich umdrehen. Die 'Umkehr' ist ein zentraler Begriff der philosophischen Lebenskunst und meint unter anderem, sich nach sich selbst umdrehen - das ist die wirkliche Radikalität der Philosophie, und insofern ist Philosophieren radikal. Ich glaube, die wirklichen Veränderungen kommen von innen. Sie ergeben sich heute aus Fragen wie: Wollen wir wirklich zu Fun-Automaten werden? Sind wir nicht auch des Wahren, Schönen und Guten bedürftig? Möchten wir nicht das Leben auf diesem Planeten respektieren? Möchten wir nicht mit mehr Macht auch mehr Verantwortung übernehmen? Mehr Menschen beschäftigen sich heute mit Philosophie; vielleicht dürfen wir daraus schliessen, dass eine neue Lust auf Verantwortung und ein neuer Mut zur Radikalität entstehen.

Sie fordern das moralische Sollen. Wie aber die Praxis zeigt, verhallt ein solcher Appell.
Ich fordere gar nichts und appelliere an niemanden. Manche Menschen fühlen sich ohnmächtig gegenüber dem Sog gesellschaftlicher Entwicklungen. Hier kann Philosophie im Sinne der philosophischen Praxis mehr Spielraum verschaffen. Bei allem rationalen Grund zur Verzweiflung über unsere heutige Welt gibt es doch im Alltag viel Klugheit, Lebensintelligenz, guten Willen. Es gilt, die Wahrnehmung hierfür zu stärken.

Weshalb sind so viele Menschen unglücklich?
Vielleicht, weil Menschsein etwas anderes heisst als Erfolg haben und in der Welt herumjetten? Wir erstarren noch in unserer 'Mobilität'.

Hat diese Erstarrung auch mit dem viel zitierten Verlust eines höheren Sinns zu tun?
Wenn wir uns der Herausforderung stellen könnten, die Tatsache des Verlusts der Mitte als Selbstverstossung des Menschen aus der Mitte des Universums zu erkennen; wenn wir alle Himmel- und Höllenvorstellungen als unsere eigenen Projektionen erkennen wollten; wenn wir uns weder aufblähen noch erniedrigen würden - uns nicht umso wurmartiger fühlen, je höher wir Gott setzen, wie Nietzsche sagt - , wenn wir all das versuchten, würden wir vielleicht unsere eigenen Kräfte eher spüren und mehr Mut fassen, sie zur Gestaltung unseres Lebens einzusetzen.

Dank unserer Vorstellungskraft können wir von höheren Sphären träumen. Weil wir aber zugleich triebhafte Kreaturen sind, bleibt oft nur Resignation.
Triebe sind nicht die Feinde unserer Träume - nehmen wir erst noch den Rest unserer Begabungen hinzu, dann sind wir für die Aufgaben des Lebens recht gut ausgestattet.

Was tun mit unserem natürlichen Bedürfnis nach Religion - sofern es dieses tatsächlich gibt?
Wir können über den Unterschied nachdenken zwischen dem infantilen Wunsch nach einem grossen Vater oder nach einer grossen Mutter, die uns alle Probleme abnimmt, und dem Anerkennen des Mysteriums. Das Geheimnis anerkennen ist eine Frage der Vernunft. Das hat im übrigen nichts mit Kirche oder Konfession zu tun.

Was die traditionellen Philosophen sagten, hat immer noch Bestand. Ist alles Wichtige bereits gedacht und gesagt?
Max Planck - Begründer der Quantentheorie - schwankte als vielseitig begabter Jüngling zwischen Musik-, Altphilologie- und Physikstudium. Vom Physikstudium wurde ihm dringend abgeraten, denn in der Physik sei im Wesentlichen schon alles erforscht. Man hielt also die Newtonsche Physik für das letzte Wort auf dem Gebiet der Naturerklärungen - bis später ausgerechnet Planck die wesentlichen Schritte zu einer neuen Art von Physik machte. In der Philosophie wäre heute das wahrhaft Wichtige der Versuch, unsere philosophische Intelligenz auf einer breiteren Basis zu fördern und sie auf unsere - wahrlich nicht kleinen - Probleme anzuwenden. Wir haben viel schöpferisches Potenzial in uns - nehmen wir es wahr!
 
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